Bericht zum Empowerment Talk „Bildung für alle?“ mit Mareice Kaiser

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© Live Graphic Recording von Aleksandra Schreiber @tellinary

 

In einer idealen utopischen Welt hätten alle Kinder und Jugendlichen, unabhängig von ihrem Elternhaus und den damit verbundenen Chancen, im Bildungssystem gleiche Zugangsmöglichkeiten. Diese sollten dazu dienen, sie gleichermaßen zu fördern und lernen zu lassen. Leider sind wir im Jahr 2023 noch nicht an diesem wunderbaren Punkt angekommen. Verschiedene Faktoren führen dazu, dass die gewünschte Chancengleichheit eher noch immer eine Chancenungleichheit ist. Im Rahmen unserer Auseinandersetzung mit dem Thema „Inklusive Gesellschaften“ im Bildungsbereich haben wir uns vorerst auf die Themen Klassismus und Inklusion konzentriert. Am 14. November 2023 hatten wir die Autorin und Journalistin Mareice Kaiser eingeladen, um über ihre Erfahrungen zu sprechen und mit uns zu diskutieren.

Klassismus alles andere als klasse

Den Klassismus-Teil begannen wir mit der Frage an die Teilnehmenden an welchen Gegenstand sie selbst ihre soziale Klasse ablesen könnten. Die Teilnehmenden erzählten recht persönliche Geschichten. Eine Person berichtete, dass sie bei einer Klassenfahrt festgestellte, dass sie die einzige Person mit einer elektrischen Zahnbürste aus der Klasse war. Die Mitschüler*innen nutzen für ihre Zahnpflege ihre manuelle Power und waren fasziniert von dem fancy aussehenden elektrischen Modell. Dieser Moment war wohl einer dieser „Aha-Momente“, in denen die Person merkte, dass sie wohl verglichen mit den anderen privilegiert sei. Dieses Beispiel und noch viele andere aus den Lebensrealitäten verdeutlichten, dass insbesondere eine schlechte finanzielle Situation von Familien viel mit Scham zu tun habe. Oftmals müssten sich armutsbetroffene Menschen „outen“ und bekennen, dass sie nicht die geforderten Mittel haben, um an sozialen Events oder Schulausflügen teilnehmen zu können. Der Gang nach vorne ans Pult, um dies zu bekennen, mache es für Betroffene extrem unbequem. Als resultierende Einschränkung von Armut wurde Wahlfreiheit identifiziert. Schließlich wurde festgehalten, dass ein Maß an finanzieller Sorglosigkeit/ ausreichender Mittel eine Wahlfreiheit ermögliche und somit gewisse Zugangshürden senken würde. In gewissen Fällen kann es die Förderung von Talenten komplett verhindern. So wurde das Beispiel gebracht, dass immer der Wunsch bestand Gesangsunterricht in der Jugend zu nehmen, es jedoch nicht von den Eltern ermöglicht werden konnte, daher nahm die Person später, im Berufsleben angekommen, den herbeigesehnten Unterricht und musste erfahren, dass sie mit einer frühzeitigen Förderung (also in der Jugend) viel hätte erreichen können, denn das Talent sei da. Solche Erfahrungen sind ernüchternd und frustrierend.

„Talente können nur entwickelt werden, wenn man gefördert wird“ – Zitat aus der Veranstaltung

„Soziale Herkunft sollte keinen Einfluss im Bildungswesen haben. Bildung sollte jedes Kind bekommen“ – Zitat aus der Veranstaltung

Doch auch neben dem finanziellen Kapital können Zugangschancen bestehen. Eine weitere Kapitalart, die einem von zu Hause mitgegeben werden kann ist das kulturelle Kapital/ Bildung. Natürlich ermöglicht Geld viel im materiellen Bereich. Dennoch mangele es an Informationen, die das Gefühl doppelt so viel leisten zu müssen, um dazu zu gehören und sich den Platz zu verdienen. Finanzieller Aufstieg sei nicht gleich zu setzen mit Bildungsaufstieg. Dies zeige sich dann auch an Fragen zu Verhaltensweisen wie: „Wie verhält man sich bei einem Theaterbesuch?“; „Was zieht man an, wenn man ins Theater geht?“ oder wie „Kommt man eigentlich in der Uni zurecht?“.

Es gibt noch viele weitere Beispiele, die an dieser Stelle stehen könnten, die aufzeigen wo Zugangsbarrieren bestehen: Zugang zu Informationen, Existenz eines Netzwerks, dass mir persönlich weiterhilft mich zu entwickeln oder Zutritt zu Räumen zu erhalten.

 

Inklusion ein Wunsch, aber nicht real

Den zweiten Diskussionsschwerpunkt neben Klassismus bildete Inklusion. Viele Teilnehmenden merkten an, dass der Inklusionsbegriff oftmals eine Worthülse darstelle, denn im Bildungssystem finde eher eine Segregation statt. Das Bildungssystem sei so verstaubt und starr, dass es nicht auf individuelle Bedürfnisse und Bedarfe eingehen würde, sodass schnell eine Ausgrenzung für Menschen erfolge, die nicht in die „Norm“ fallen würden. Folglich könnten Prüfungen nicht abgelegt werden und somit auch kein Bildungsabschluss erworben werden. Neben den Zugangshürden wurde auch über Vorbilder gesprochen. Anhand der Frage wie viele Schauspieler*innen mit Behinderung man kenne, diskutierte die Gruppe wie wichtig es auch sei, dass es Vorreiter*innen gibt, die sich durch diskriminierende Systeme schlagen und somit Anderen Möglichkeiten aufzeigen und den Weg dorthin erleichtern. Gerade in der Filmindustrie gäbe es wenige Schauspieler*innen. Neben der fehlenden Repräsentanz würden Menschen mit Behinderung auch oft von Schauspieler*innen gespielt, die keine Behinderung haben. Zudem wurde berichtet, dass Menschen mit Behinderung nicht so viel zugetraut würde. Bevor der Versuch unternommen werde sich den eigenen Träumen zu nähern, werde davon abgeraten. Mareice Kaiser ermutige die Teilnehmenden sich nicht entmutigen zu lassen und sich als Mensch ohne Behinderung mit den Anderen zu solidarisieren und Unterstützung bereitzustellen.

„Kopf in den Sand stecken? “– oder – „ Etwas tun?“

Am Ende der Diskussion wurden Handlungsoptionen erörtert. Mareice Kaiser betonte, dass Veränderung möglich sei, wenn Menschen sich zusammenschließen und gemeinsam Dinge und Strukturen verändern würden. Es sei wichtig, den aktuellen Stand nicht zu akzeptieren, insbesondere in Zeiten, in denen die Kinder- und Jugendpolitik oft auf der Kürzungsliste der staatlichen Fördermittel stehe. Menschen mit Behinderungen haben kaum eine Lobby, daher sei es entscheidend, sich zu solidarisieren und Unterstützung anzubieten.

Während des Gesprächs wurden einige weitere Lesetipps geteilt. Diese wollen wir euch natürlich nicht vorenthalten, daher kommt hier noch die Liste mit allen gesammelten Tipps.

Lesetipps:

Bücher:
• „Wir Strebermigranten“ von Emilia Smechowski
• „»Bist du behindert, oder was?« – Kinder inklusiv stärken und ableismussensibel begleiten“ von Rebecca Maskos und Mareice Kaiser
• WIE VIEL – Was wir mit Geld machen und was Geld mit uns macht“ von Mareice Kaiser

Personen:
• Aladin El-Mafaalani: https://www.mafaalani.de/
• Kübra Sekin: https://www.kuebrasekin.de
• Raul Krauthausen: https://raul.de/
• hintergrund-unterseiten1x.webp
• Natalya Nepomnyashcha: https://www.netzwerk-chancen.de/natalya-nepomnyashcha

Sonstiges:
• UN-Behindertenrechtskonvention: https://www.bmas.de/DE/Soziales/Teilhabe-und-Inklusion/Politik-fuer-Menschen-mit-Behinderungen/Behindertenrechtskonvention-der-Vereinten-Nationen/behindertenrechtskonvention-der-vereinten-nationen.html

 

Klassismus

„Klassismus bezeichnet die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft und/oder der sozialen und ökonomischen Position. Es geht bei Klassismus also nicht nur um die Frage, wie viel Geld jemand zur Verfügung hat, sondern auch welchen Status er hat und in welchen finanziellen und sozialen Verhältnissen er aufgewachsen ist. Klassismus richtet sich mehrheitlich gegen Personen einer „niedrigeren Klasse“. Es werden insbesondere wohnungs- und erwerbslose Menschen, Menschen aus der Arbeiter*innen- und Armutsklasse ausgegrenzt.“

Quelle: Klassismus: Diversity Arts Culture Berlin: https://diversity-arts-culture.berlin/woerterbuch/klassismus

kulturelles Kapital

„Kulturelles Kapital wurde erstmals von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu eingeführt und bezieht sich auf die kulturellen Ressourcen, die Menschen in ihrer Umgebung ansammeln und nutzen können. Dazu gehören nicht nur formale Bildung und akademisches Wissen, sondern auch künstlerisches Verständnis, kulturelle Praktiken, Sprachkompetenz, Geschmack und soziale Netzwerke.“

Quelle: S + P Seminare: „Die Bedeutung des kulturellen Kapitals: Mehr als nur Wissen und Bildung“: https://sp-unternehmerforum.de/was-ist-kulturelles-kapital/#:~:text=Kulturelles%20Kapital%20umfasst%20die%20kulturellen,Geschmacks%20und%20ihrer%20kulturellen%20Netzwerke

Inklusion

Jeder Mensch soll sich gleichberechtigt und unabhängig von Behinderung, sozialer Herkunft, Geschlecht, Alter, sexueller Orientierung oder sonstiger individueller Merkmale und Fähigkeiten an allen gesellschaftlichen Prozessen beteiligen können.

Das bedeutet, dass alle Menschen ganz selbstverständlich am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Ziel des Projekts ist es also, dass sich alle Menschen zugehörig fühlen: Menschen mit und ohne Behinderung, mit und ohne Migrationserfahrung, jung, alt, Mann, Frau, Kind, arm und reich.

Quelle: Aktion Mensch: „Was bedeutet Inklusion bei Kommune Inklusiv?“: https://www.aktion-mensch.de/kommune-inklusiv/praxis-handbuch-inklusion/faq/was-der-weite-inklusionsbegriff-bedeutet#:~:text=Wir%20definieren%20den%20weiten%20Inklusionsbegriff,allen%20gesellschaftlichen%20Prozessen%20beteiligen%20k%C3%B6nnen.

Graphic Recording zum zum Empowerment Talk "Bildung für alle?" mit Mareice Kaiser